Was ist ein Trauma?

Vielleicht kann ich das am besten erklären, wenn ich dir dazu eine Geschichte erzähle. Es ist eine Begegnung, die ich auf dem Jakobsweg hatte und über die ich in meinem Buch Mein Jakobsweg: Mit der Seele im Rucksack“ schreibe.

Der Katalogmann

Jonathan (Name und Umstände sind entfremdet) ist ein attraktiver junger Bursche aus München. Während er an mir vorbeirauscht, grüßen wir uns freundlich. Er stellt fest, dass ich auch Deutscher bin und wird langsamer. Ich schließe auf und mich ihm an. Er ist Projektmanager einer großen bekannten Firma in Bayern, sieht wirklich gut aus und ist eine Sportskanone. Trotzdem geht er nun an meiner Seite und macht langsamer. Man ist mit jedem auf dem Camino sofort per du und auch sofort vertraulich. Das finde ich so erstaunlich.

Macht das der Weg mit einem oder gehen nur Menschen diesen Weg, die einen offenen Spirit haben?

Ich erzähle Jonny (so nenne ich ihn bald) von meinem Sabbatical und von meiner Familie zuhause und er erzählt mir seine Geschichte. Corona und all die Beschränkungen, gekoppelt mit all der öffentlichen Panikmache, haben ihm letztes Jahr mental sehr zugesetzt. Er hat es nicht mehr allein im Homeoffice in seiner kleinen Wohnung ausgehalten. So bat er seinen Chef, ihm den gesamten Jahresurlaub und noch zusätzlich 5 Monate unbezahlten Urlaub zu geben. „Dann habe ich mir ein Ticket gekauft und hab den ganzen Wahnsinn erstmal hinter mir gelassen.“ „Wo ging‘s denn hin?“ – wollte ich wissen. „Eine Weltreise, das wollte ich schon immer mal machen!“

Aufgrund der weltweiten Reisebeschränkungen ist es dann doch keine Weltreise geworden, aber Jonny war ein halbes Jahr lang in Südamerika auf Tour. Mexiko, Guatemala, Belize, Peru, Chile und Brasilien.

„Es war eine geile Zeit, aber ich habe mein Leben lang den Eindruck, dass ich irgendwie auf der Flucht bin.“ – eröffnet er mir. Er erzählte von seiner komplizierten Beziehung, die dann für ihn schmerzhaft zu Ende ging. Aber irgendwie hängt er aber dann doch noch an seiner Ex. Sein Job ist sehr lukrativ, aber befriedigt ihn nicht wirklich. Er verspürt eine tiefe Leere in sich. Obwohl Jonny von außen cool und wie ein Model aus dem Katalog aussieht, wirkt er auf mich verängstigt und verunsichert. Ich spreche das offen an. Dann erzählt er mir seine traumatische Kindheitsgeschichte.

Sein Vater war Alkoholiker. Die Ehe der Eltern war voller Ablehnung und Gewalt. Er als ältestes Kind stand immer zwischen den Eltern und seinen jüngeren Geschwistern. Angst und Unsicherheit waren seine täglichen Begleiter. Eines Tages kam er als Siebenjähriger als erster nach Hause und fand seinen Vater tot im Badezimmer. Er hatte Suizid begangen. Während er mir diesen Vorfall schilderte, verfärbte sich sein Gesicht, seine Stimme zitterte, er atmete schnell und flach, dann setzte er sich plötzlich auf einen Baumstamm am Wegesrand. Ich kannte all diese Symptome von meinen Trauma Klienten. Die Ereignisse lagen bereits über 30 Jahre zurück, aber nun waren sie wieder präsent wie am ersten Tag. Ich zeigte ihm eine Atemübung, bat ihn etwas zu trinken, dann saßen wir eine Weile still nebeneinander.

Irgendwann durchbrach Jonny die Stille: „Als ich meinen Vater da so fand, hatte ich eine unheimliche Angst. Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, weinen, aber all das konnte ich nicht tun. Ich war wie gelähmt. Ich hatte einen Kloß im Hals, ich stand völlig neben mir. Als meine Mutter von der Arbeit kam, fand sie uns beide im Bad.“

„Wie lange warst du denn da allein mit deinem toten Vater?“ – wollte ich wissen. Jonny meinte, er wisse es nicht, aber es müssen Stunden gewesen sein.

Er war bereits einige Male in psychologischer Behandlung, mit sehr mäßigem Erfolg. Alpträume, Einsamkeit, Rastlosigkeit und Angstattacken verfolgen ihn nun schon sein Leben lang. Dann fügte er noch hinzu: „Deswegen muss ich mich wahrscheinlich auch andauernd ablenken durch Sport, flüchtige weibliche Bekanntschaften, Weltreisen, Partys… Ich halte all das sonst nicht aus.“

Ein Trauma ist eine schwerwiegende Form der emotionalen Verletzung (Trauma kommt aus dem Griechischen und bedeutet Wunde).

Die Ursachen von Trauma können sehr unterschiedlich und vielschichtig sein. Wir unterscheiden heute zwei Arten von Traumata, die auf ihre Entstehung zurückgehen:

  1. Schocktrauma. Es entsteht plötzlich, innerhalb kürzester Zeit, z. B. durch einen Unfall, Krieg, eine Vertreibung, Vergewaltigung, Todeserfahrung (aus dem engsten Familienkreis) oder Gewalterfahrung allgemein (z. B. Raubüberfall).
  2. Entwicklungstrauma (wird auch Bindungstrauma genannt). Dieses Trauma entwickelt sich langsam und meistens schon in der frühesten Kindheit.
    • Bei Kindern, die keine sichere Bindung zu ihren Eltern hatten,
    • Bei Kindern, die schon sehr früh Gewalt ausgesetzt oder miterlebt haben,
    • Bei Kindern aus dysfunktionalen Familien, oder bei
    • Kindern mit einer süchtigen oder psychisch instabilen Bezugsperson

All diese Kinder stehen in der Gefahr ein Trauma zu entwickeln. Diese Kinder sind oft auf einer absolut aussichtslosen Mission, irgendwie ihre Eltern zu retten. Auch ein transgenerationales Trauma ist ein Entwicklungstrauma. Hier wird das Trauma von Eltern oder Großeltern an die jeweils nächste Generation weitervererbt. Aber egal, ob ein plötzlicher Schock oder eine langsame Entwicklung die Ursache für ein Trauma ist, die Rahmenbedingungen für deren Entstehung sind immer dieselben. Menschen, mit einem Trauma:

  1. waren alle in einer äußerst beängstigenden, ausweglosen Situation
  2. in der Zeit des Erlebens dieser Situation konnten sie sich nicht selbst retten
  3. sie waren einer feindseligen und lebensbedrohlichen Situation ausgeliefert

Aber nicht jeder Mensch, der eine traumatische Erfahrung gemacht hat, entwickelt in der Folge ein Trauma, an dem er später oft und sehr lange leidet. Ein Trauma ist zunächst eine normale seelische Schutz-Reaktion auf ein belastendes Ereignis. Sowohl unsere Psyche als auch unser Körper sind in der Lage auch solch schwere inneren Verwundungen „von selbst“ zu heilen.

Und doch entwickeln viele Menschen mit der Zeit ein Trauma mit erheblichen Traumafolgen, an denen sie mental, körperlich und auch geistlich viel zu tragen und zu leiden haben. Wir verstehen es bis heute noch nicht ganz, warum die einen ein Trauma gut verarbeiten können und die anderen nicht.

Traumaresponse

Jeder Traumatisierte übt mit der Zeit eine eigene Traumaantwort (auch Traumaresponse genannt) ein. Was ist damit gemeint? Man versucht eine Art Umgehungsstraße um die innere Verwundung zu bauen, damit man sich nie wieder an sie erinnern muss. Denn jedes Hervorholen der Erinnerung bringt wiederum auch denselben Schmerz hervor, den man bei dem lebensfeindlichen Erlebnis gespürt hat. Diese 4 typischen Traumaantworten nennt man auch Überlebensstrategien:

  1. Fight – Kampf
  2. Flight – Flucht
  3. Freeze – Erstarren
  4. Fawn – Schmeicheln/Unterwerfen

Diese Reaktionen laufen automatisiert ab und sind von bewusster Steuerung abgekoppelt. Das Ergebnis von Trauma ist Aufspaltung, auch Dissoziation genannt. Diese innere Aufspaltung kann sehr unterschiedlich aussehen. Hier einige klassische Dissoziationen, die Traumapatienten erleben.

  1. Dissoziative Amnesie. Es kommt tatsächlich zum Gedächtnis- und Erinnerungsverlust – man nennt das in der Psychologie „dissoziative Amnesie“. Allerdings ist Vergessen in der Regel der schlimmste Feind seelischer Heilung.
  2. Katatonische Dissoziation. Bewegungsstörungen bis hin zu Krampfanfällen.
  3. Depersonalisations- oder Derealisationsstörung. Es ist die Loslösung von der Umgebung (die Welt erscheint nicht real, sondern wirkt wie ein Traum), Entfremdung vom eigenen Körper und den Gedanken (Körperteile können als kleiner oder nicht real empfunden werden. Dieselben Symptome kennt man auch bei Schizophrenie.
  4. Dissoziative Identitätsstörung. Verlust des Bewusstseins über die eigene Identität. Erleben von zwei oder mehr anhaltenden Persönlichkeitszuständen. Diesen Befund nannte man früher: multiple Persönlichkeit.

Die Methoden und Techniken der Traumabehandlung sind zu komplex, als dass ich sie hier weiter ausführen kann. Unbehandelter emotionaler Schmerz ist wie eine angestaute Energie eines Lava Sees, die früher oder später eine unerwartete Eruption verursacht, die unser Leben dann in (noch mehr) Chaos und Schmerz stürzt.

Wege der Heilung

  1. Heilung von Trauma ist möglich. Menschen sind dem Trauma nicht ein Leben lang ausgeliefert, wie man das in der Psychlogie noch vor einigen Jahren lehrte.
  2. Eine klassische Behandlung mit einer kognitiven Therapieform (CBT, wie z. B. Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Logopädie, etc.) wird aber nicht zielführend sein. CBT kann Traumapatienten nur helfen, sich etwas besser zu regulieren (was u. U. auch wertvoll sein kann). Aber CBT kann Trauma nicht „auflösen“ und schon gar nicht heilen.
  3. Traumaheilung benötigt immer einen ganzheitlichen Ansatz für Seele, Körper und Geist – so wird auch dein Therapieansatz sein müssen. Psychopharmaka werden dir zwar helfen, deine Symptome zu lindern, aber sie werden keine Heilung deiner inneren Wunden herbeiführen.
  4. Suche dir daher eine Therapeutin/ einen Therapeuten, der/die speziell im Bereich Traumabehandlung ausgebildet ist. Diese Traumabehandlung wird sehr stark mit deinem Körper und den neuronalen Netzwerken (im limbischen System) arbeiten. Ich Arbeite sehr gerne mit EMDR und IFS – zwei Methoden, die sich in der Traumabehandlung sehr gut bewährt haben und erstaunliche Ergebnisse erzielen.

 

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